Ich mag es, wie die Flocken sich auf meiner Haut niederlassen. Nur ein Hauch von feuchter Kühle, leicht, leise, einfach so. Sie meinen mich gar nicht. Sie sind einfach da und ich bin auch da. Sitze in einer Mulde und wünsche mir, eins zu werden mit ihrer Selbstverständlichkeit, ihrem unangestrengten Dasein, ihrer Fraglosigkeit. Es ist so leicht, mich von ihnen einhüllen zu lassen. Lautlos umgibt mich ihr stetes Rieseln, ihre schwerelose Überzahl. Die Luft um mich wird milchig und verdichtet sich zu einer tröstlichen weißen Decke. Mein Körper ist von einer flaumigen Schicht überzogen, die meine Konturen unscharf und belanglos macht. Wenn ich hierbleibe, werde ich mich bald in nichts mehr von meiner Umgebung unterscheiden.
Ich höre Stimmen. Sie dringen gedämpft durch die zu Eis erstarrten Moleküle, die mich umgeben. Die ehemals flauschigen, milchig-zarten Flocken sind über die Jahre zu einem glasklaren Kokon gehärtet, der jeder Witterung trotzt. Die Stimmen kommen näher und ich erkenne, dass es die Stimmen meiner Kinder sind. Sie fragen, wo ich bin, brauchen mich, vermissen mich. Ich sollte mich ihnen zuwenden, für sie da sein, doch ich kann die glänzende Hülle nicht durchdringen. Sie ist mein Schutz, mein Halt, mein Gefängnis. Und sie ist nicht nur um mich herum, sie hat sich bis unter meine Haut gefroren. Ich habe Angst, dass ich ohne sie in mich zusammenfalle.
Meine Ärztin kommt und fragt, was mir fehlt. Wenn ich könnte, würde ich lachen, denn was soll mir fehlen? Ich bin eingebettet in das heitere, chaotische Leben einer Großfamilie auf dem Lande. Tausend kleine und große Tätigkeiten und Aufgaben füllen meine Tage, Wochen und Monate, beschäftigen meine Hände und meinen Kopf. Jeder kann sehen, wie gut ich es habe, wie ich alles richtig mache, Entscheidungen treffe und neue Wege gehe. Für meine Familie. Für die Gemeinschaft. Für eine bessere Welt.
Doch die Frage wühlt sich durch meinen Körper und stößt dort auf unerhörte Hohlräume, übersehenes Brachland, schmerzvolles Vakuum. Mich schaudert. So ist das also: Mein Inneres ist leer, verwaist und zusammengehalten werde ich von einem Korsett aus Eis, das in der Sonne schillert. So will ich nicht sein, das bin ich nicht und das habe ich nicht nötig! Heiße Wut durchströmt mich und entflammt meine Sinne. Ich begebe mich auf Spurensuche nach meinem früheren Selbst und folge der ersten Fährte, die ich finde: die der skrupellosen Draufgängerin. Meine ersten Schritte sind ungelenk, als müsste ich das Laufen erst wieder lernen, aber schnell stellen sich Erfolge ein und fiebrige Energie glüht in meinen Adern. Wie das Leben in mir prickelt und pocht, flattert und mit den Flügeln schlägt!
Meine schimmernde, kristallharte Schale hält. Sie bekommt feine Risse und an einigen Stellen bilden sich Sprünge und Brüche, deren Tiefe sich nur demjenigen zeigt, der danach zu suchen wagt. Aber sie hält. Sie gibt mir weiterhin Schutz und ihre ebenmäßige, vertraute Form wehrt die meisten Fragen ab.
Ich breche ein. Ohne Vorwarnung, ohne Übergang, als hätte es das letzte halbe Jahr nie gegeben. Als hätte ich meine Pirouetten auf dünnem Eis über einer Luftblase gedreht. Reglos starre ich auf die Welt jenseits meiner tiefgefrorenen Behausung. Auf bunte Blätter, spielende Kinder, geschäftige Nachbarn. Der Frost dringt mir bis in die kleinsten Knochen, lähmt noch die letzte Muskelfaser. Ich habe keine Kraft mehr für mein Leben, das mir wie eine endlose Aneinanderreihung von Schuldgefühlen, Scham und Scheitern erscheint. In mir sind keine Worte mehr und kein Willen.
Meine Ärztin drückt mir einen Zettel in die Hand. Er ist DIN A5 groß und weiß — bis auf die wenigen Silben, die meine Rettung werden sollen.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich es geschafft habe, alles vorzubereiten. An Wintergarderobe, Geschenke, Adventsschmuck, Hund, Haushalt, Schule, Kindergarten und tausend andere Dinge zu denken, damit das komplexe und fragile System auch ohne mich reibungslos weiter läuft. Sicher hat mir die jahrelange Routine geholfen. Als letztes packe ich meine Koffer und kaufe eine Fahrkarte.
Frühmorgens am Tag meiner Abreise stehen alle meine Lieben am Bahnsteig und winken. Als der Zug sich in Bewegung setzt, brechen endlich die Tränen aus mir heraus. Die Tränen, die zu weinen ich mich nie getraut hatte. Tränen der Dankbarkeit, einfach alles hinter mir lassen zu dürfen.
Die Fahrt dauert viele Stunden und mit jedem Kilometer wird mir leichter ums Herz. Ich werde von der Bahn abgeholt, bekomme einen Zimmerschlüssel, eine Hausordnung, einen Stundenplan. Für alles ist gesorgt. Für mich ist gesorgt.
Ich habe nicht geahnt, dass es einen Ort wie diesen gibt und noch weniger, dass er einmal Teil meines Lebens werden würde. Aber er tut mir gut. Die anderen tun mir gut. Wir halten uns an den Händen, schauen uns in die Augen und sagen uns die Wahrheit. Unsere Wahrheit. Nachts, wenn ich zitternd vor Kälte unter drei Decken liege, höre ich sie. Meinen Zimmernachbarn, der leise in seine Kissen schluchzt. Die Frau von gegenüber, die ruhelos durch die Gänge streift. Das junge Mädchen, das nicht aufhören kann, den Schlüssel im Schloss zu drehen. Und fühle mich geborgen.
Tagsüber tanze ich, als wäre ich die einzige Überlebende einer Naturkatastrophe. Zum ersten Mal in meinem Leben berausche ich mich an Farben und Formen, male mich in Trance. Gefühle durchströmen mich und füllen meine Zellen mit Wärme und Licht. Erst vibrieren sie nur zaghaft, dann wachsen sie unaufhaltsam zu einer Druckwelle an, die mich selig taumeln lässt. Ich suche lange nach dem richtigen Wort dafür und finde es schließlich in einer meiner vereisten Herzkammern: Glück
Ich kann die Familienfotos nicht in mein Zimmer stellen, den Ring nicht am Finger tragen. Wenn Post kommt, schließe ich sie ungeöffnet in den Schrank. Ich will nur ich sein. Das ist schwer genug.
„Haben Sie Ängste?“ fragt meine Therapeutin. Ich verneine. Aber das stimmt nicht. Morgens wache ich schweißnass auf, weil ich geträumt habe, dass jemand nach mir ruft. Die Schritte auf dem Flur vor meinem Zimmer lassen mich aufschrecken. Ich weiß nicht, warum. „Was brauchen Sie von den anderen?“ fragt sie weiter. Ich weiß es wirklich nicht. Ich will nichts brauchen.
Ein runder, heller Saal, hohe Decke, Parkettboden. Die Musik ist so laut, dass ich den Rhythmus im ganzen Körper spüre. Gerade noch war ich stolz, mich aufgerichtet zu haben, hatte überglücklich die Schwerkraft überwunden, spielerisch tastend den freien Stand erreicht. Doch meine winzigen Füße wagen sich keinen Schritt mehr voran. Um mich herum werden die Bewegungen immer raumgreifender, ausladender. Nur ich bin allein. Ich darf nicht, kann nicht mitmachen. Eine Zeit lange fühle ich noch den Impuls, zu kämpfen, doch dann sinke ich. Stilles, dunkles Wasser umfängt mich und ich sinke langsam immer tiefer, bis auf den Grund des Sees.
Nichts ist selbstverständlich für mich, denn ich bin nicht gewollt gewesen. Meine Mutter badete heiß und schrubbte das Treppenhaus, aber der Fötus blieb, wo er war. Ich war eine Zumutung. Meine Eltern hatten sich über eine Kontaktanzeige kennen gelernt, in der mein Vater sich zwanzig Jahre jünger gemacht hat. Meine Mutter hat sich in einen Mann verliebt, der ihr Vater hätte sein können. Der Vater, den sie nie kennen gelernt hat, weil er vor ihrer Geburt starb. In dem Krieg, der ihren Mann für den Rest seines Lebens traumatisiert hat. Schuld, Verzicht, Leid und Mangel hatten ihrer beider Jugend geprägt. Leben hieß, zu überleben, indem man die Hoffnungen so lange erstickt, bis das, was übrig bleibt, einem keine Angst mehr macht.
Und dann ein Baby. Ich habe oft gefragt, warum. Damals gab es schon die Pille, meine Eltern waren politisch aufgeklärt und modern. Aber nicht im Privaten. Da herrschten Hilflosigkeit und Schweigen. Als sie ihm sagt, dass sie ein Kind erwartet, lautet seine Antwort: „Dann werde ich die Verantwortung übernehmen.“ Auf den Hochzeitsfotos sieht meine Mutter aus wie Jackie Kennedy: Perfekt gekleidet, angestrengt lächelnd, zu alt für ihre jungen Jahre. Während der Schwangerschaft raucht sie weiter, weil sie gehört hat, dass das Kind dann nicht so groß und die Geburt leichter wird. Doch auch dieser halbherzige Plan misslingt. Nach stundenlangen Wehen sagt der Arzt grinsend zu ihr: „Rein geht leichter als raus!“ Sie stillt mich nicht. Wenn sie mich füttert, bekomme ich immer zu wenig, denn ich soll nicht dick werden. Dicke Babys findet sie hässlich. Ich bin da, weil ich ihrem Leben einen Sinn gebe. Mehr darf ich nicht sein.
Ich liege immer noch auf dem Grund meines tiefen Sees. Erstarrt, betäubt, gelähmt. Von der Mitte des großen Saales bin ich zum Rand gegangen, um nicht von den wild tobenden Massen überrannt zu werden. Der Therapeut kommt zu mir und legt den Arm um mich. Er sagt: „Sie können jetzt hier stehen bleiben. Das kennen Sie schon. Oder sie können einen Schritt nach vorne machen. Es ist Ihre Entscheidung.“
Ich mache den Schritt.
Meine Mutter hat mich auf die Welt gebracht. Das Leben muss ich mir selber schenken.
Weihnachten in der Klinik. Ich bekomme ein Päckchen von meiner Familie. Die Freude darüber dauert nur ein paar Meter, dann trifft mich das schlechte Gewissen wie eine Keule in die Kniekehlen: Wenn ich eine gute Mutter wäre, wäre ich jetzt nicht hier, sondern da. Ich würde mit meinen Kindern backen und basteln, singen und spielen und ihnen über die vor Aufregung und Vorfreude rosigen Wangen streichen, statt durch endlose Trümmerfelder zu irren. Ich hätte ihnen ein Haus aus Liebe gebaut, ein lebendiges, buntes Schmetterlingshaus, in dem sie die Geborgenheit und Unterstützung erhalten, die ich mir selber immer gewünscht habe. Dabei war ich so sicher, alles anders und besser gemacht zu haben. Und habe doch das Offensichtliche übersehen: Sucht, Respektlosigkeit, Lügen, Abhängigkeit, Schweigen, Angst.
Eines Abends klopft der Pirat an meine Tür. Sie zersplittert. Wir segeln unter den Sternen und der Mond scheint auf meine blasse Haut bis sie blüht.
Der Winter ist noch nicht zu Ende, doch das Eis ist geschmolzen. Trübe hängt die Luft über den Feldern. Sie riecht nach Gülle und Rauch. Struppiges Grün und stoppeliges Braun verschmelzen mit nacktem Grau. Dazwischen fangen vereinzelte Schneeflecken meinen Blick. Ich weiß nicht, was schwerer zu ertragen ist: Farben, die nur noch ein Schatten ihrer selbst sind, bis zu Unkenntlichkeit ausgelaugt und ineinander geflossen oder ihre absolute Abwesenheit.
An einem Mittwoch bin ich abgefahren und an einem Mittwoch komme ich zurück. Wenn ich daran denke, sehe ich den Hauptbahnhof vor mir. Die vielen Gleise, die Zugluft, riesige Werbeplakate. Dabei bin ich doch noch ein letztes Mal umgestiegen, um wieder ein Stück aus der großen Stadt heraus zu fahren. Aber vielleicht bin ich nicht da angekommen, wo ich ausgestiegen bin. Bin nicht in mein Auto gestiegen und habe mich nicht zurück bringen lassen in mein altes Leben.