Es fing damit an, dass ich mit Anfang 40 die Pille absetzte, weil ich sie nicht mehr vertrug und dadurch überhaupt erst merkte, dass mein Zyklus unregelmäßig wurde. Das war ein bisschen schade, weil ich gerade erst zu verstehen begonnen hatte, welche Bedeutung mein Körper für mein ganzes Da-sein hat und dass insbesondere meine Blutung mehr war als eine lästige Randerscheinung meiner kopflastigen Existenz. Doch gleichzeitig war das der Beginn einer neue Ära, in der meine Sexualität endgültig von meiner Fruchtbarkeit entkoppelt war. Die leidige Verhütungs-Problematik entfiel und meine Lust auf Sex, die mein Erwachsenenleben lang durch künstliche Hormone niedergehalten worden war (unterbrochen von Phasen der Schwangerschaft und des Stillens), nahm streckenweise eine Wucht an, die mich schier überwältigte.
Seit mein Körper mit 13 frauliche Konturen angenommen hatte, war ich mir oft genug vorgekommen, als wäre ich in der Mitte eines Autoscooters ausgesetzt worden, aber nun fühlte ich mich endlich in Besitz einer eigenen Karosserie und fand Gefallen daran, am Steuer zu sitzen. Nach endlosen Jahren der Lustlosigkeit und Überforderung war ich unbändig neugierig und das Einzige, was mir zu schaffen machte, war die Frage: “Darf ich das?”
Inzwischen fühle ich mich so frei wie nie in meinem Leben, zu tun was mir gefällt und zu lassen, was mir nicht behagt. Ich habe gelernt, „Ja“ zu sagen und ich habe gelernt, „nein“ zu sagen und ich verspüre immer seltener den Drang, mich für irgendwas zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Das hat sicher mit den Hormonen zu tun (mehr Testosteron! weniger Östrogen!) und auch mit meinem persönlichen Entwicklungsweg (Ausbildungen in Tantramassage und Sexualtherapie, berufliche Selbständigkeit), aber nicht nur. Das hat auch damit zu tun, dass mein Körper gealtert ist und ich von meinem Umfeld anders behandelt werde. Das wurde mir neulich Morgen klar, als ich mal wieder einen Artikel über den Weinstein-Skandal las. In dem Text wurden die Erlebnisse von 35 Frauen zum Teil detailliert beschrieben und in mir stiegen Erinnerungen hoch, Bilder, Gefühle.
Plötzlich fiel mir auf, dass ich das alles lange nicht mehr erlebt habe und was für eine Erleichterung das ist. Es kommt nicht mehr vor, dass ein vierzig Jahre älterer Mentor mir die Zunge in den Hals steckt, nachdem er mich nach Hause gebracht hat. Es kommt nicht mehr vor, dass ein Freund meines Vaters nach dem Nachhilfeunterricht mit mir zu schlafen begehrt. Es kommt nicht mehr vor, dass ein Vorgesetzter am nächsten Morgen im Büro damit prahlt, wir hätten die Nacht zusammen verbracht, obwohl wir nur ein Bier trinken waren. Und so weiter und so fort.
Ständig wie ein Objekt behandelt, ständig auf mein Geschlecht und meinen Körper reduziert zu werden, hatte etwas gemacht mit mir. Es hatte mich einerseits misstrauisch, unsicher und befangen gemacht und andererseits borniert, denn ich dachte wirklich, dass alle Männer Sex mit mir wollen. Immer und ausnahmslos. Sexualität war für mich weniger etwas Körperliches, ein sinnliches Spiel mit Energien, mit Lust und Genuss. Häufig war es ein Tausch, es ging um Macht, Bestätigung, Aufmerksamkeit, Abhängigkeit oder die Aufrechterhaltung des status quo. Manchmal war das ein Kick, doch meistens war mein Orgasmus gespielt.
So wenig ich über meinen eigenen Körper wusste, so wenig konnte ich mich in meinem Gefühlsleben und in dem sozio-kulturellen Setting, das mich als Frau umgab, zurechtfinden. In der Konsequenz habe ich viele unangenehme Erfahrungen gemacht und mich schließlich immer mehr zurückgezogen. Was blieb, war eine vage Sehnsucht nach dem, was zwischen all den Wirrnissen, Verletzungen, Übersprungshandlungen und Übergriffen manchmal durchgeblitzt war: ungetrübte Momente, in denen Körper, Geist und Seele in Deckung waren, in denen ich mich richtig und wohl gefühlt hatte, in denen ich erregt und lustvoll war und keinen Preis dafür bezahlen musste.
Jetzt, da ich auf die 50 zugehe und mein Leben deutliche Spuren auf meinem Körper hinterlassen hat, da ich nicht nur dreifache Mutter, sondern auch Stief-Oma bin und meine Jüngste beim Kuscheln feststellt, dass mein Bauch “so schön flauschig” sei, kann ich euch versichern, dass Lust und Genuss beim Sex nichts, aber wirklich gar nichts mit dem body mass index zu tun haben oder damit, ob mein Busen hängt und mein Po wabbelt. Beim Sex geht es darum, wie es sich anfühlt, nicht darum, wie es aussieht. Ich genieße meine Sexualität mehr als je zuvor. Sie ist besser als mit 20, als ich dachte „Ich bin jung und hübsch, das reicht wohl!“, weil ich keine Ahnung hatte. Sie ist besser als mit 30, als ich nicht wusste, wie ich den Rollenerwartungen an mich als Mutter und Geliebte gleichzeitig gerecht werden sollte. Sie ist besser als mit 40, als ich wähnte, dass nun alles vorbei sei, weil ich nicht mehr aussah wie 20.
Wenn ich daran denke, wie sehr Äußerlichkeiten wie ein vermeintliches “zuviel” oder “zuwenig” an gewissen Stellen oder Dehnungsstreifen, Cellulitis, Falten & Co. schon in jungen Jahren mein Körpergefühl beherrscht haben, werde ich wütend auf unsere Gesellschaft und ihr idiotisches Schönheitsideal. (In diesem Zusammenhang kann ich euch den Film “Embrace” empfehlen, der ist wirklich heilsam!)
Inzwischen habe ich Sex, weil ich Lust auf Sex habe und aus keinem anderen Grund. Er hat für mich einen Wert an sich, er belohnt sich durch sich selbst und nicht vorwiegend durch seinen emotionalen und sozialen Mehrwert. Das klingt selbstverständlich, aber es ist alles andere als selbstverständlich, wie mir fast täglich Frauen in meiner Praxis berichten.
Es fällt es mir jetzt viel leichter, das zu sehen, was hinter der Fassade ist. Hinter meiner und hinter der von anderen Menschen. Zu erkennen, was das Bedürfnis hinter dem Bedürfnis ist. Verantwortung zu übernehmen für mich und meine Sexualität.
“Besser spät als nie!”, denke ich oft.
Dies ist übrigens ein Beitrag zu einer Blogparade unter dem Titel „Meine Wechseljahre und ICH“ auf Lemondays, einem sehr lesenswerten Blog über die Wechseljahre. Dort sind noch viele andere persönliche Texte zu finden, unter anderem “Lust und Genuss in der Menopause?! Hell yes!!!” von Anandi Iris Mittnacht, der sich auch mit der Sexualität in und nach den Wechseljahren befasst und den ich dir sehr ans Herz legen möchte.
2 Kommentare
Liebe Hanna,
vielen Dank für deinen offenen und ermutigenden Text!
Er lässt mich einmal mehr die Sehnsucht danach spüren, auf allen Ebenen — also auch der sexuellen — noch mehr ich selbst zu sein.
Und ich werde dieser Sehnsucht weiterhin folgen. <3
Herzliche Grüße
Andrea
Liebe Andrea,
ja, das solltest du unbedingt tun — es gibt so viel zu entdecken!
Von Herzen,
Hanna