1. Wie war die sexuelle Situation in deiner Familie? In was für ein kulturelles Umfeld wurdest du in Bezug auf Sexualität hineingeboren? Wie würdest du das Verhalten deiner Eltern in diesem Bereich beschreiben?
In meiner Familie wurde einerseits sehr, sehr offen über Sex geredet und der nackte Körper offen gezeigt. Die krassesten Momente hier sind als ich mit 6 Jahren meinem Papa zu Ostern mit meiner Mama seine Hoden als Ostereier angemalt habe oder als meine Eltern kurz nachdem ich mit 17 Jahren Sex hatte, in mein Zimmer gekommen sind, um das Lattenrost zu polstern. Ich persönlich habe das als Kind und Jugendliche als normal und okay empfunden, jedoch mit der Zeit gemerkt, dass vieles für mich zu offen war. Besonders da andererseits über die Affären meiner beiden Elternteile und sexuellen Missbrauch meiner Mutter und meiner Großmutter väterlichseits nie gesprochen wurde. Erst mit Anfang 20 habe ich diese Dinge mithilfe von Therapie und Fragen an meinen Vater und Anstößen von guten Freund*innen herausgefunden.
Mein Umfeld war stark geprägt von Erwachsenen Hippies, die traumatische (sexuelle) Erlebnisse um mich herum in einer Gruppe am Aufarbeiten waren. Die Ressourcen in diesem Umfeld haben mich sehr gestärkt, die zentrale Selbstfindungsfrage der Erwachsenen jedoch auch geschwächt. Nun arbeite ich meine eigenen traumatischen (und teilweise sexuellen) Erlebnisse auf.
Meine Eltern haben immer wieder getrennte Schlafzimmer und immer wieder Sex. Seit 10 Jahren haben sie jedoch keine Affären mehr. Berührungen vor mir kommen eher selten zwischen den beiden vor. Ich habe das Gefühl, dass die beiden im Urlaub zu zweit oder auf Tanzveranstaltungen ihre Liebe und Sexualität deutlicher leben.
2. Hast du dich selbst erfreut/ befriedigt als Kind? Mit was für einem Gefühl hast du das getan? Wurdest du „erwischt“? Wie wurde reagiert?
Ich habe mich stellenweise im selben Bett wie mein Vater berührt. Ob er das gemerkt hat, weiß ich nicht. Ich habe das stets mit einem Gefühl der Freude und des Glücks getan. Auch mit meinen Freundinnen habe ich mich zum gemeinsamen Befriedigen getroffen, wovon meine Eltern wussten. Heute wirkt es für mich so als ob ich hierdurch ihre Aufmerksamkeit wollte. Leider hat das nie geklappt. Mir wurde nur mit 16 Jahren von meiner Mutter gesagt, dass ich mich nicht benutzen lassen soll. Und es wichtig ist, nichts für die Männer mitzumachen.
3. Wer hat dich aufgeklärt?
Ich habe durch die offene Umgebung in Gesprächen der Erwachsenen sehr viel erfahren und sonst die Bravo, welche mir von meinen Eltern gekauft wurde, gelesen. Später dann Sachbücher. Bei schwierigen ersten Erfahrungen, wo ich Angst vor einer Schwangerschaft hatte, habe ich meine Eltern direkt gefragt, was ich tun soll. Diese haben mir dann sehr intensiv erklärt, warum die Chance von Petting schwanger zu werden sehr gering ist und mit mir auf meine nächste einsetzende Periode gewartet.
4. Was für einen Eindruck hattest du in Bezug auf Sexualität, bevor du sie selbst erlebt hast?
Sex gehört zum Leben dazu wie atmen, essen und trinken. Sex ist ein Grundbedürfnis. Und Sex gefällt mir bzw. jeder Person. Hier war und ist eine Grenze, die haarscharf den Glaubenssatz „Sex hat mir zu gefallen“ streift. Sex ist gleichbedeutend mit Freiheit.
5. Wie hast du die Veränderungen deines Körpers in der Pubertät erlebt und wie wurde darauf reagiert?
Als sehr belastend, da ich meine Periode mit 12 bekommen habe und sehr früh lange Achselhaare hatte. Zudem sind meine Brüste sehr früh gewachsen. In der siebten Klasse habe ich mal einem Mitschüler eine geknallt, da er meine Brüste ungefragt angefasst hatte. Bevor das passiert ist, gab es sehr viele mich verletzende Kommentare wie „geile Titten“ und „Iiiih, Achselhaare“. Meine Beinhaare verstecke ich noch heute gerne in Strumpfhosen.
6. Wie war deine erste Menstruation und wie wurde sie von deiner Familie aufgenommen?
Ich habe meine erste Menstruation mitten beim Umziehen für den Schwimmunterricht bekommen. Ich bin sofort nach Hause und habe zu Papa, der als einziger zu Hause war, von der Toilette aus gerufen: „Papa, ich blute!“. Daraufhin hat dieser sehr aufgeregt und freudig Binden organisiert und mir diese reingereicht. Ich wusste wie die funktionieren und habe dann alleine alles sauber gemacht und die Binde eingelegt. Als Mama zuhause war, hat sie sich gefreut und mir gratuliert. Und am nächsten Tag haben wir ein Herz im Blumenladen ausgesucht, was ich damals als peinlich, heute als sehr schönes Ritual empfinde. Mama hätte dieses Ereignis gerne größer zelebriert. Ich wollte das jedoch nicht, da mir das zu viel Aufmerksamkeit gewesen wäre.
7. Wie waren deine ersten sexuellen Kontakte (intime Berührungen, Küsse etc.)
Meine ersten Kontakte waren sehr intensiv. Ich wurde mit 12 von meinem ersten Freund geküsst und beim ersten richtigen Date von ihm gefingert. Als er wollte, dass ich ihn anfasse, habe ich abgelehnt. Danach war unsere Beziehung dann auch vorbei. Bei meinem zweiten Freund mit 13 habe ich diese Ablehnung des männlichen Geschlechts beibehalten und auch ihn dort zu Anfang nicht berührt. Nach sechs Monaten wollte er Sex mit mir haben, was ich nicht wollte. Auch hier war die Beziehung dann deswegen vorbei. Beim Schreiben fällt mir auf, dass meine ersten sexuellen Kontakte nicht schön waren. In meiner dritten Beziehung habe ich dann alles, auch mein erstes Mal, so gemacht, dass es meinem Freund gefällt. Ich wollte nicht wieder verlassen werde. Das Doofe war daran, dass ich anfangs nie wirklich Konsenssex hatte oder meine Sexualität unabhängig von der Lust meines Gegenübers kennen lernen konnte.
8. Wie war das, was du für dich als den ersten “richtigen” Sex bezeichnest?
Mein erstes Mal Penetrationssex hatte ich als 16-Jährige, weil ich endlich dazu gehören wollte: zum Club der Entjungferten. Ich habe weder den Sex noch die Beziehung zu meinem Freund damals genoßen. Diese Beziehung habe ich nach 1,5 Jahren beendet.
9. Wie verlief deine sexuelle Biografie von da an?
Ich bin dann mit 17 Jahren zurückgerudert, habe mir einen schüchternen Freund gesucht und diesem von Anfang an gezeigt und gesagt, was ich wie möchte. Hier war der allererste Kuss und der Sex immer wunderschön. Zudem bestand unsere Beziehung endlich mal nicht nur zentral aus Sex. Ihm wollte ich sogar zu viel Sex. Seine Ablehnungen haben mich damals sehr verletzt. Wir konnten jedoch über diese Gefühle miteinander reden, was neu und schön für mich war. In dieser Beziehung bin ich für ein Jahr weg gegangen. In diesem Jahr hatte ich keinen Sex, was der längste sexfreie Zeitraum seit meinem ersten Mal bisher war. Nach der Trennung hatte ich eine krasse Phase und habe mit sehr vielen Männern geschlafen und aktiv nach Sexdates gesucht. Fast fünf Jahre lang habe ich stellenweise weder auf Verhütung noch auf safer sex geachtet und bin sehr dankbar, dass mir nichts passiert ist. Ich habe auch zwischendurch mich an Männer binden wollen, indem ich schwanger von ihnen werde. Ich dachte, dann könnten mich diese nicht verlassen.
Mit 25 bin ich auf eine Kommilitonin aufmerksam geworden und habe verstanden, dass ich bisexuell bin. Ich war sehr schnell in sie verknallt, ein halbes Jahr später sind wir zusammen gekommen. Mit ihr bin ich zusammen gezogen, um sie an mich zu binden. Diese Frau hat mich so berührt wie zuvor kein Mann. Ich habe kurz sogar gedacht, dass ich lesbisch sei. Doch plötzlich tauchte ein Mann in meinem Freundeskreis immer wieder in meinen Gedanken auf. Mit der Frau habe ich das erste Mal erlebt, dass beim Sex nicht nur der Körper, sondern auch mein Geist und mein Herz anwesend sein können und wollen. Diese Erfahrung machte ich nach der Trennung von ihr mit meinem aktuellen Freund dann schönerweise auch.
10. Wie ist dein Stand im Moment? A) In sexuellen Beziehungen/ Kontakten B) In der sexuellen Selbstliebe.
Ich kämpfe mit Eva und Lilith. Eva nenne ich den Anteil in mir, der besonders lieb, fürsorglich, naiv, süß und pflichtbewusst ist. Lilith nenne ich den Anteil in mir, der besonders frei, wild, laut, heiß und verführerisch ist. Beide verknüpfe ich stark mit meiner sexuellen Selbstliebe. Und beide machen es mir schwer, mich selbst zu mögen. Mich selbst als gesamte Person, jedoch auch — oder eben vorallem! — mich selbst mit meinen sexuellen Wünschen und Bedürfnissen. Die Beziehung zu mir, meiner Exfreundin und meinem aktuellen Freund stoßen viele schöne neue Impulse in mir an. Ich kann und möchte hier die sexuelle Selbstliebe und meine sexuellen Beziehungen nicht voneinander trennen. Durch meine Traumatherapie, die ich unterstützt von meiner Exfreundin und meinen Freundinnen vor etwa neun Monaten angefangen habe, löst sich viel Altes in mir. Ich lasse immer mehr alten Schmerz und alte Trauer los. Und spüre immer mehr alte sowie neue Freude und Wärme in mir, wenn ich mich mit meiner sexuellen Biografie beschäftige oder mein Freund und ich miteinander schlafen oder kuscheln. Über meine Gefühle zu reden, zu schreiben und diese nicht mithilfe von Sex wegzudrücken, ist hier ein großer Schritt. Ich freue mich auf alle weiteren… Und noch immer glaube ich, dass eine gelebte sexuelle Selbstliebe mich meiner inneren und äußeren Freiheit näher bringt.
11. Gab es Geburten? Wenn ja, wie liefen sie ab?
Nein.
12. Hast du Erfahrungen gemacht, die du für dich als traumatisch erlebt hast, z.B. Abtreibung, Vergewaltigung, Missbrauch, Operation, medizinischen Eingriff, Sonstiges?
Ja, habe ich. Die vielen sich wiederholenden Situationen, in denen ich mit Männern geschlafen habe und dachte „Wann ist das endlich vorbei?“. Die Situation, als ich zum dritten Mal die Pille danach nahm und der Apotheker mir sehr lieb mitteilte, dass es auch die Realität gäbe, in der ich ein Kind bekommen könne. Die Situation, in der ich meinen Freund betrogen habe, um mich selbst nicht zu fühlen.
“Splitterfasern” sind ein Blog, in dem Menschen anonym Texte zu ihrer sexuellen Biografie hochladen.
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