Meine Eltern sind aufgrund ihrer eigenen Geschichte in dem Ausdruck von Liebe, Zärtlichkeit und Zuneigung hilflos, sprachlos und in sich gefangen. Fotos über ihr Kennenlernen, zeigen die Scham aber auch die Verliebtheit der beiden damals jungen Erwachsenen wie pubertierende Jugendliche. Sie zeigen sich spielerisch mit Fäusten und necken sich gegenseitig. Jedoch gibt es kein Foto, dass eine zärtliche Berührung zeigt. Auch in der Phase dieser jungen Liebe.
Kurz nachdem sie zusammen waren, bekam meine Mutter Gebärmutterkrebs. Es musste alles entfernt werden. Die Ohnmacht der beiden hatte sich wie ein Schwert trennend zwischen sie gelegt. Unter Tränen erzählen mir heute einzeln mal Paps in einem Nebensatz, mal meine Mutti, dass Sexualität, aber auch Berührung — egal ob in Worten oder physisch — ab da nicht mehr stattfand. Also gefühlt seit dem Zeitpunkt, seit dem sie sich kannten. Somit bin ich in einer Umgebung groß geworden, in der ein trüber Schatten über einem unausgesprochenen Thema in der Luft lag. Die Starre, diese Scham habe ich vor allem bei Filmen gemerkt, bei denen meine Eltern bei Kussszenen regelmässig zu Salzsäulen erstarrten. Für mich gab es weder Zuneigung noch körperliche Nähe.
So konnte ich einmal beobachten, wie mein Paps meiner Mutter einen Schmatzer auf dem Mund gab bevor er zur Arbeit ging und ich war irritiert darüber, ja fast schon erschrocken. Was war das denn? Das ist auch die einzige Berührung, die ich zwischen den beiden jemals gesehen habe. Und demnach gab es auch keine Gespräche über Sex oder auch was mit meinem Körper in der Pubertät passiert. Ich hatte ein Comicbuch zu Hause, das ich eifrig, aber heimlich studierte. Eine Freundin von mir hatte die Bravo. Ich durfte sie mir selber nicht kaufen.
Im Kleiderschrank lag ein Stapel dicker Binden, welche meine Mutter mit dem Satz “Wenn es dann losgeht, kannst du dir hier Binden nehmen” dort hingelegt hatte. Am Tag meiner ersten Periode hatte ich riesengroße Angst, meiner Mutter davon zu erzählen. Ich habe mich geschämt und hätte mir so sehr eine Umarmung gewünscht, beruhigende Worte.
Mit 16 hatte ich dann meinen ersten Freund. Meine damals beste Freundin hatte mich mit zu ihrer Frauenärztin genommen um mir die Pille verschreiben zu lassen. Da ich Akne hatte, war das der offizielle Grund dafür. Meine Mutter meinte beiläufig: “Du weisst schon, dass das auch … für was anderes ist?” Sie konnte es sich auch nicht nehmen lassen, die Eltern von meinem Freund zu kontaktieren, dass sie doch bitte kontrollieren sollten, dass wir in getrennten Betten schliefen, als ich dort im Urlaub zu Besuch war. Haben wir natürlich nicht.
Das erste Mal war verbunden mit einer Neugier und vielen Ängsten. Wirklich gesprochen haben wir nicht. Irgendwie gehörte es dazu zu dem Gefühl erwachsen sein zu wollen. Es war jedoch eher ein “Was-gefällt-ihm-wohl” Gedanke, als ein “was-mag-ich-eigentlich”. Und das war auch in der Partnerschaft danach der rote Faden. Ich habe es gemacht, weil es dazu gehört und eine gute Freundin, bzw. attraktive Frau ja auch nie zu sparsam sein sollte mit ihren Reizen.
Und so habe ich natürlich schon auch mit Lust und dem ein oder anderen Orgasmus eine Sexualität gelebt, die mehr mein Gegenüber im Fokus hatte. Aus Angst, prüde zu wirken, habe ich oft mich recht schnell überzeugen lassen, mit Männern intim zu werden. Für mich immer mit dem Gedanken, es könne mehr daraus entstehen. Benutzt worden zu sein und immer wieder abgewiesen worden zu sein, als reines sexuelles Objekt wahrgenommen zu werden von Männern unterschiedlichen Umfeldes, mit Kind, verheiratet, im Rentenalter, unterschiedlicher kultureller Hintergrund, hat dann letztendlich dazu geführt, dass ich mich völlig verschlossen habe.
Meine eigene Sprachlosigkeit hat dazu geführt, dass die sexuellen Begegnungen außerhalb von Partnerschaft so ernüchternd waren und für mich so wenig mich wertschätzend waren, dass ich leider den Männern abgeschworen hatte. Ich weiß heute von meiner Angst vor Berührung und Nähe und öffne mich langsam wieder vorsichtig … als allererstes für mich. Denn einem erfüllten “wIr” geht ein in Fülle seiendes “ich” voraus. Und ich habe diesen Wunsch tiefer, tiefer Berührbarkeit und Berührung in einer Begegnung mit einem Mann und ich möchte dies in einem für mich sicheren Rahmen einer Beziehung erfahren. Ich durfte in meinen letzten Beziehungsversuchen erleben, wie Sexualität sein kann, wenn zwei Menschen bereit sind, sich hinzugeben und nicht zu performen, wenn zwei Menschen sich fließen lassen, ohne ein Programm ablaufen zu lassen. Es waren drei wunderschöne Erlebnisse, die mir Hoffnung geben, Mut machen und vor allem Appetit auf das, was Sexualität für mich wirklich bedeutet — ein sich voll und ganz einlassen auf mein Gegenüber.
Und um aus meiner tiefen Sehnsucht in eine lebbare Realität zu gelangen, lege ich Schicht für Schicht die Scham ab, sexuelle Bedürfnisse zu haben, erlaube mir die Sehnsucht nach Lust einzuladen und öffne mich für die Mutwelle, es real im Leben zu erleben. Und auch wenn ein Teil in mir darüber weint, die besten Jahre, in denen der Körper vor Energie nur so strotzt, in reinen Traumwelten gelebt zu haben, mit wenigen Ausnahmen nur Sex mit mir gehabt zu haben, stimmt es mich dennoch optimistisch, dass die große Torte auf mich noch wartet. Und ich weiß jetzt schon, dass sie durch die Arbeit an mir selber, durch meine heutige Sicht auf mich, mein mir-wirklich-nahe-sein, die beste Torte sein wird, die ich bisher vernascht habe und dass vor allem ein ganzes Buffet sich dort aufbaut.
Noch verschlägt es mir in Gegenwart attraktiver Männer jedoch die Sprache. Mein innersten Wunsch, mich sexuell im Rahmen eine Beziehung auszuprobieren, macht die Auswahl nicht wirklich einfacher. Würde ich mich jedoch auf eine Affäre einlassen, hätte es das schale Gefühl meiner sexuellen Erlebnisse davor und das möchte ich definitiv nicht mehr, zumindest denkt es derzeit noch so in mir. Und so übe ich mich in Geduld, in Selbstannahme und Selbstliebe, und in Sprache über Nacktheit, sexuelle Lust und meine Bedürfnissen.