Tantra bedeutet „Verbundensein“, mit sich selber, mit dem eigenen Körper, mit einem anderen Menschen. Aber für mich war Sexualität lange vor allem ein Mittel, um meinem Kopf zu entkommen, um für einen Moment zu vergessen, wer ich bin. Dazu brauchte ich starke Reize von außen, am besten funktionierten One-Night-Stands. Sex in Verbindung mit Liebe – das ging nie lange gut. Ich wollte mich nicht verbinden, ich wollte weglaufen. So verbrachte ich also ein Leben im Exil, außerhalb von mir selber.
Eine Lebenskrise und starke Depressionen führten mich schließlich in ein Tantramassage-Seminar. Bevor wir die Intimmassage erlernen durften, wurde die Gruppe nach Geschlechtern getrennt und die Ausbilderin begrüßte uns Frauen mit einem gewinnenden Lächeln zum „Yoni*-Talk“. Wir sollten ein Yoni-Modell aus Plüsch vor unseren Unterleib halten, sie mit dem Satz „Ich bin die Yoni von …“ vorstellen und dann erzählen lassen, wie es ihr geht, wie sie sich fühlt und was sie in ihrem Leben schon erlebt hat. Ich bin sonst selten um Worte verlegen, aber dazu fiel mir beim besten Willen nichts ein. Stattdessen fühlte ich uferlose Traurigkeit in mir aufsteigen. Ich reichte das rote Plüschteil erst mal weiter und hörte zu, was die anderen Yonis zu sagen hatten. Der Effekt war bemerkenswert: Die Frauen klangen ganz anders als sonst. Manche mädchenhaft, einige traurig, wenige stolz. Als ich schließlich an die Reihe kam, war mein Blick starr auf den Boden gerichtet, während ich mit stockender, brüchiger Stimme ein bisschen von gar nichts sprach, denn meine Yoni schien stumm zu sein. Kein Wunder: Ich hatte sie nie zuvor gefragt, wie es ihr geht und was sie von dem hält, was so mit ihr passiert.
Ich konnte nicht mal weinen, so erschüttert war ich. Da saß ich, eine Frau von 45 Jahren, die drei Kinder geboren hatte und in mir brach alles zusammen, wie ein Kartenhaus. Schlagartig wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte. Ich wusste gar nichts, nicht über meinen Körper, nicht über meine Sexualität, nicht über meine Yoni. Das alles war immer nur Mittel zum Zweck gewesen, Objekt, nicht Subjekt. Ich hatte es benutzt und ich hatte es benutzen lassen. Ich wusste nicht, was meine Yoni mochte, was sie sich wünschte und was sie brauchte, wie es sich anfühlte, wenn es ihr gut ging. Ich hatte keinen Maßstab dafür, keine Bezugsgröße. Niemand hatte mir das beigebracht, niemand hatte danach gefragt und das Schlimmste war, dass ich selber nie nach einer Antwort gesucht hatte. Ich hatte viel zu oft andere über sie bestimmen und entscheiden lassen. Ich war nicht mal auf die Idee gekommen, dass mein Körper eine eigene Stimme hat und eine eigene Wahrheit.
Das Seminar ging weiter und wir fingen an, Yonimassagen zu bekommen und zu geben. Ich weinte viel. Meine Yoni begann, sich mir mitzuteilen und ich hörte zu. In den kommenden zwölf Monaten setzte ich die Tantramassage-Ausbildung fort, begann parallel die Ausbildung in Frauenmassage und Sexualcoaching für Frauen bei Nhanga Grunow und assistierte bei Seminaren. Ich lernte viel, ich war viel unterwegs, aber ich nahm mir auch Zeit für Meditationen und dafür, einfach meine Hände auf meine Yoni zu legen und in sie hinein zu spüren. Sie wurde mein Kraftort, mein Ruhepol, mein Tempel. Zum ersten Mal seit langer Zeit war ich psychisch stabil.
Aber ich spürte auch, dass es etwas gab, wovor ich Angst hatte, was ich vermied. Ich brauchte das sichere Umfeld der Tantraseminare, um mich auf Berührungen einzulassen und in die Tiefen meiner Lust zu gehen. Bei dem Orgasmustraining für meine Ausbildung blieb ich dort, wo ich mich sicher fühlte, an der Perle, und um intime Kontakte zu Männern machte ich einen großen Bogen. Ich spürte, dass da irgendwo noch viel mehr war, aber die Schwelle dazwischen erschien mir wie die Mauer eines Staudammes und ich befürchtete fortgespült zu werden, wenn ich sie öffnete. Es ging nicht nur um Lust, es ging um Gefühle, um die emotionale Dimension meiner Sexualität und ich traute niemandem zu, damit umzugehen, schon gar nicht mir selber.
Aber meine Yoni verlangte danach. Je weiter ich in meinen Ausbildungen fortschritt, je mehr ich anderen gab, was sie brauchten und es mir selber vorenthielt, desto ärgerlicher wurde sie, das zeigte sie mir deutlich. Sie wollte sich entfalten, sie wollte aufblühen, sie wollte, dass ich für sie sorgte und irgendwann war ich reif dafür. Als ich mit einem sehr erfahrenen Kollegen und guten Freund zum Massagetausch verabredet war und er mich beim Vorgespräch nach meinen Wünschen fragte, nahm ich all meinen Mut zusammen und bat ihn um eine ausgiebige Yonimassage.
Er legte seine warme Hand auf meinen Rücken und setzte mit einem einzigen schwungvollen Strich meine Wirbelsäule in Flammen. Ich war wie eine Geige, die zum ersten Mal so gespielt wird, wie sie gespielt werden will, die zum ersten Mal ihr ganzes Stimmspektrum entfalten kann. Ihr Klang war voll und satt, mühelos schwang sie sich von Höhe zu Höhe und verlor keine Sekunde den Halt. Als er zur Yonimassage kam, hielt er sich kaum an der Perle auf, sondern betrat schon bald meinen Tempel. Es war, als hätte dort ein Symphonieorchester auf seinen Einsatz gewartet.
Ich erkannte mich nicht wieder. Ich hörte auf zu zählen, ich kümmerte mich nicht um den Lärm, den ich machte, die Sturzbäche, die aus mir sprudelten, den Schweiß, der mir herunter rann, die Bewegungen, die mein Becken vollführte, das butterige Gefühl in meinen Gliedern, die Glut in meinem Kopf, die Hitze in meiner Brust.Was er da aus mir herausholte war mir fremd und doch kam es direkt aus meinem Innersten, es gehörte mir. Ich war ganz und gar ich, so wie ich irgendwann mal gedacht war, so wie ich auf die Welt gekommen bin: Pure Energie, ein Feuerball, ein Wasserfall, ein Tornado, durch und durch Frau. Meine Yoni war in ihrem Element, so viel war klar. Ich fing nicht an zu weinen, ich kam nicht in irgendwelche Prozesse, ich fühlte mich einfach nur ekstatisch, frei und stark. Noch Stunden später vibrierte jede Zelle in mir und ich fand keine Worte um ihm zu danken, dass er mir gezeigt hatte, wer ich bin, dass er mir geholfen hatte, mich mit meiner Yoni zu verbinden.
Es war wie ein Befreiungsschlag, als hätte ich eine Schallmauer durchbrochen. Eine Woche später hatte ich nach sehr langer Zeit wieder Sex mit einem Mann. Ich hatte keine Angst mehr, ich wusste, dass ich nichts mehr falsch machen konnte, denn meine Yoni und ich waren Freundinnen. Ich vertraute ihr und ich vertraute mir, denn das, was gut und richtig für sie ist, ist auch gut und richtig für mich.
Mein Leben wurde mein Leben, als ich mir meinen Körper zu eigen machte. Ein halbes Jahr später war ich Gesundheitspraktikerin für weibliche Sexualität. Im Sommer darauf ließ ich professionelle Fotos von meiner Yoni machen, denn mit ihr hatte alles angefangen.
*Das Wort „Yoni“ stammt aus dem indischen Sanskrit und bezeichnet den gesamten weiblichen Intimbereich, also auch die Eierstöcke und die Gebärmutter. Weitere Bedeutungen sind „Quelle“, „Ursprung“, „Ruheplatz“. Ich mag diesen Ausdruck sehr, denn er ist frei von den Konnotationen unserer Alltagssprache und drückt viel Wertschätzung aus.
6 Kommentare
Liebe Hanna,
was soll ich sagen? Ich sitze vor dem PC, habe gerade diesen Artikel gelesen und sitze hier in Tränen und eine innere Stimme sagt mir “ja, hier bei mir ist es gerade genauso wie es bei Dir war , als Dein Kartenhaus zusammenbrach, und bei ganz vielen anderen Frauen ist es sicher auch genau so und es ist so an der Zeit, dass sich das ändert und das ALLE Mädchen auf der Welt lernen, sich schon als Kind so mit ihrer Yoni eins zu fühlen, wie Du es jetzt (erst) tust” und wir Frauen auch, denn erst dann nehmen wir unsere Kraft wirklich zu uns und sie fliesst in uns und durch uns.
Ich habe zwei Kinder, Jungs, und die verbinden sich mit ihren Penis und fassen ihn an wann immer es geht, weil es ihnen gut tut, ganz intuitiv, seitdem sie wissen, dass es sich gut anfühlt, wenn sie ihn anfassen und sich mit ihm verbinden, es ist ganz natürlich für sie und selbstverständlich, seitdem sie keine Windeln mehr tragen.
Liebe Claudia,
ja, genau darum geht es! Diese Selbstverständlichkeit, uns mit unserem Körper und seiner Kraft zu verbinden, die sollten wir uns zurück holen!
Lieben Gruß,
Hanna
Vielen Dank für diesen wunderschönen, ehrlichen und bewegenden Artikel!
Vielen Dank für diesen schönen Kommentar!
Liebe Hanna,
es berührt mich tief. Danke für deine Ehrlichkeit und Offenheit.
Kitti
Danke für den schönen Kommentar, Kitti 🙂